Reformation und Israel

Am 31. Oktober 1517 war der historische Thesenanschlag von Dr. Martin Luther in Wittenberg. Im selben Jahr begann die ottomanische Herrschaft im Nahen Osten. Sie sollte 400 Jahre währen: Am 31. Oktober 1917 siegten in Beer Sheva die angelsächsischen über die ottomanischen Truppen und öffneten den Weg nach Jerusalem. Am selben Tag unterzeichnete das britische Kriegskabinett die historische Balfour-Erklärung: Der völkerrechtliche Grundstein für die Wiedererstehung eines jüdischen Nationalstaates auf historischem Boden war gelegt. Im Jahr 2017 wird das 500-Jahres-Gedenken und 100-Jahres-Gedenken ergänzt durch das 50-Jahres-Gedenken der Wiedervereinigung Jerusalems. Handelt es sich hierbei um eine Ansammlung unzusammenhängender Zufälle? Oder lässt sich dahinter der Gott der Bibel erkennen, der Gott Israels, der Urheber und das Ziel der Menschheitsgeschichte?

Gott lenkt das Schicksal von Machthabern und Weltreichen, von Äonen und Epochen

Immer wieder stand für uns als Christen an der Seite Israels folgendes Wort aus Daniel 2 im Mittelpunkt unserer geistlichen Ausrichtung: „… Gepriesen sei der Name Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit! Denn sein ist beides, Weisheit und Macht. Er führt andere Zeiten und Stunden herbei; er setzt Könige ab und setzt Könige ein; er gibt den Weisen die Weisheit und den Verständigen den Verstand.“ (Dan. 2,20-21) Dieses Dossier ist ein Versuch, hinter diesen auffälligen Fügungen und historisch datierbaren Konstellationen den Urheber, den Herrn und das Ziel der Menschheitsgeschichte besser kennen und verstehen zu lernen. Kann man zwischen diesen Geschehnissen einen Zusammenhang erkennen? Und wenn ja, was hat das uns als gläubigen, geschichtsbewussten und betenden Christen im Jahr 2017 (und danach) zu sagen?

Reformation – Erweckung – Wiederherstellung Israels

Der christliche, australische Historiker Kelvin Crombie hat in seiner aktuellen Dokumentation „31 October – Destiny’s Date?“ („31. Oktober – ein Schicksalsdatum?“, zu lesen auf unserer Website www.israelaktuell.de) unter anderem auf folgenden Zusammenhang hingewiesen:

Es war eines der großen Verdienste der Reformation, die Bibel als Gottes Wort wieder in die Mitte des christlichen Glaubens zu stellen. Es war das Wort Gottes, das immer breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden konnte. Auf der Grundlage der biblischen Offenbarung konnte in Folge der Heilige Geist vielen Menschen Überführung von Sünde, Buße, Bekehrung, Wiedergeburt und Kraft zur Nachfolge – kurz: Erweckung schenken. Das war die Geburtsstunde des Pietismus. (Pietistische) Erweckung wiederum wirkte sich in zwei Richtungen aus: Zunächst einmal auf der individuellen Ebene. Hinzu kam jedoch eine wachsenden Offenbarung für überindividuelle, für heilsgeschichtliche Themen und Zusammenhänge. In diesen Zusammenhängen spielte Israel die zentrale Rolle, die Geschichte von Völkern und Weltmächten eine weitere.

Der Vater Jesu Christi als Anfänger und Vollender sowie als letzte Instanz und Mitte der Weltgeschichte und der darin verwobenen Heilsgeschichte mit Israel als Dreh- und Angelpunkt wurde in dieser christlichen Erneuerungs-Strömung genauso ernst genommen wie die Person Jesu als persönlicher Heiland und Erlöser.

Diese wachsende Offenbarung hat Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten erreicht – unter anderem auch Machthaber in Preußen / Deutschland und in Großbritannien. Aus dieser gemeinsamen Inspiration heraus wurden Kirche und Königshaus in Preußen (lutherisch) und in Großbritannien (anglikanisch) zu einer erstaunlichen Zusammenarbeit bewegt. Eine Frucht davon war die gemeinsame Schaffung und Leitung eines Bischofssitzes inmitten des ottomanischen Nahen Ostens mit der „Christ Church“ in Jerusalems Altstadt als Hauptkirche in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Eine zweite Frucht der Reformation und dieser zweidimensionalen Erweckung (individuell und heilsgeschichtlich) war einige Jahrzehnte später die Entscheidung des britischen Kriegskabinetts, mit großer Mehrheit die Balfour-Erklärung zu akzeptieren und zu unterschreiben. Auffallend ist, dass die Mehrheit der Mitglieder des Kriegskabinetts als bekennende Christen oder als solche, die in einer von der Erweckung geprägten Familie aufgewachsen sind, mit der biblischen Offenbarung zur Wiederherstellung Israels vertraut waren.

Die Engführung Luthers, die zwei Ströme des Pietismus und der kirchliche Liberalismus

Vereinfacht gesagt gab es in den Erweckungsbewegungen des 17.– 19. Jahrhunderts zwei Strömungen: Die eine, stärker vom Luthertum geprägte Strömung fokussierte ihre biblische Sicht von Erlösung ganz auf die individuelle Ebene – Buße, Bekehrung, Nachfolge, Evangelisation und Mission. Die andere, zum Teil mehr vom Calvinismus geprägte Strömung hatte neben dieser noch eine zweite Perspektive im Blick: Die heilsgeschichtliche Dimension von Gottes Erlösungshandeln.

In dieser heilsgeschichtlichen Perspektive war auch Raum für die biblische Offenbarung bezüglich Israel und der Völkerwelt sowie einem gesellschaftsreformatorischen „Reich Gottes“-Verständnis. Die Erweckung in Großbritannien und von da ausgehend in der angelsächsischen Welt war mehr von der calvinistischen Reformation berührt, die in Deutschland mehr von der lutherischen. Das erklärt auch manche Unterschiede in der Erweckungsgeschichte dieser beiden Länder.

In Deutschland kam schließlich neben der biblisch-theologischen Engführung Luthers und des maßgeblich davon geprägten Teils der pietistischen Erweckung später noch eine zweite Engführung hinzu: Die liberale Theologie. In ihr wird das Phänomen historisch relevanter biblischer Prophetie grundsätzlich in Frage gestellt. Dies wiederum hat naturgemäß einen weitreichenden Einfluss auf biblische Endzeitlehre und Eschatologie, wie er im deutschen Protestantismus zwischen Mitte des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts feststellbar ist. Darauf weist Dr. Petra Heldt hin, die dieses Thema unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf den deutschen Protestantismus und das Königs- bzw. Kaiserhaus aufbereitet hat.

Beides, die einseitige Fokussierung auf die Rechtfertigungslehre auf Kosten der heilsgeschichtlichen Dimension auf der einen Seite und die liberale Entschärfung der Realität und Relevanz biblischer Prophetie auf der anderen Seite, haben der Israeloffenbarung in Deutschland in den letzten Jahrhunderten großen Schaden zugefügt. Kirchengeschichte und nationale Geschichte belegen dies mehr als hinreichend.

Ansätze zu einer positiven Weiterentwicklung

Die gute Nachricht ist gemäß den Aussagen des Paulus, dass auf die Wiederkunft Jesu hin Seine Gemeinde in ihre volle Schönheit (Eph. 5) und in ihre volle Reife (Eph. 4) hineinwachsen wird. Dies gilt zumindest für den Teil der Gemeinde, der zu den „fünf Jungfrauen“ gehört, die Einlass in die Hochzeitskammer des Bräutigams (Jesus) bekommen (Mat. 25). Im Lichte dieser Verheißungen dürfen wir darauf vertrauen, dass aus Gottes Perspektive Raum und Hilfe zu Veränderung zum Besseren gegeben sind. Auf unserer Seite liegt der Schlüssel dafür in Offenheit, Veränderungsbereitschaft und Konsequenz in der Umsetzung gewonnener Einsichten. Auf drei Ebenen:

1) Die biblisch-theologische Ebene

Im Zentrum der biblisch-theologischen Neuorientierung gilt es, sich danach auszustrecken, die innerbiblische und gesamtbiblische (zugegeben manchmal spannungsvolle) Einheit von Rechtfertigungslehre und Heilsgeschichte neu zu gewinnen. Der Römerbrief, Kapitel 11, bietet dafür die entscheidenden (hermeneutischen) Schlüssel.

Darüber hinaus unterstütze ich die Sichtweise von Dr. Berthold Schwarz, Leiter des Instituts für Israelogie in Gießen, dass das Thema Israel in der Bibel ein Querschnittsthema ist, das sich durch alle anderen theologischen Fachbereiche hindurchzieht. Es sollte die Aufgabe aller biblischtheologischen Ausbildungsstätten sein, dieser zentralen Erkenntnis zunehmend Rechnung zu tragen.

Schließlich möchte ich für die persönliche Bibellese zu der schlichten, aber nicht selbstverständlichen Erkenntnis Mut machen, dass dort, wo in der Bibel „Israel“ steht, in aller Regel auch Israel gemeint ist.

2) Die geistlich-prophetische Ebene

Der schweizer Theologe Karl Barth sagte einmal treffend: „Antisemitismus ist Sünde gegen Gott.“ Wo im persönlichen Bereich, in unserem Verantwortungs- oder Einflussbereich oder auch im größeren kirchlichen oder gesellschaftlichen Kontext Antisemitismus festzustellen ist, gilt es, dies vor Gott als Sünde zu benennen. Das gibt den geistlichen Ruck, um in eine andere Herzenshaltung und eine andere Gesinnung zu kommen. Viele fragen mich: „Wann ist denn genug Buße getan?“ Meine Antwort darauf: „Wenn die Früchte der Buße eindeutig und dauerhaft sind.“ Dafür dürfen wir beten. Darin dürfen wir lernen, voranzugehen. Jeder an seinem Platz und gemäß seiner Berufung.

Aus meiner Sicht bilden derartige historische Schlüsseldaten jeweils eine besondere Gelegenheit, um sich zu informieren, darüber zu reflektieren und Raum für Veränderung zu machen. Sie können als Katalysatoren dienen. Das habe ich schon sehr oft erlebt. Insofern glaube ich auch, dass der 31. Oktober 2017 ein ganz besonderer geistlich-prophetischer Katalysator sein kann.

3) Die pragmatische Ebene

„Herr, was möchtest Du, dass ich konkret tue?“ Das ist die richtige Frage an Gott, um Klarheit darüber zu gewinnen, wo man sich konkret engagieren kann. Am 31. Oktober. An anderen Gedenktagen. Jeden Tag. Ganz gemäß den Begabungen, Berufungen und vielfältigen Möglichkeiten, die jeder von uns geschenkt bekommen hat.

Für mich persönlich gewinnt im Lichte dieser historischen Geschehnisse und der damit verbundenen wachsenden Erkenntnisse meinerseits die Wiederherstellung der Verbundenheit zwischen Deutschen und Briten zum Segen für Israel eine immer größere Bedeutung. In Römer 11 heißt es: „Gottes Gnadengaben und Berufungen gereuen ihn nicht.“ Das gilt zuerst für Israel. Aber es gilt im Grundsatz allen Völkern und Nationen. Jedes Volk hat Gaben zum Segen für andere Völker bekommen. Und Israel ist das erste Volk, an dem sich diese erweisen sollen. Dann werden sie auch vielen anderen Völkern und Nationen zum Segen werden können.

Genau das erbitte ich für Großbritannien. Ich erbitte mir das für Deutschland sowie für unsere völkerübergreifende Zusammenarbeit zum Segen für Israel. Daraus, so glaube ich, wird noch vieles andere erwachsen. Und dafür bietet der 31. Oktober 2017 mancherlei hervorragende Gelegenheiten. 500 Jahre nach der Reformation. 100 Jahre nach dem Doppelereignis des Sieges über die ottomanischen Truppen in Beer Sheva und der Unterzeichnung der Balfour-Erklärung. 50 Jahre nach der Wiedervereinigung Jerusalems unter jüdischer Souveränität.

Möge der Herr im Zusammenhang mit diesem vor uns liegenden Schlüsseldatum jedem von uns mehr Klarheit in der Beantwortung dieser Frage schenken: „Was darf ich konkret zum Segen für Israel tun?“


Erschienen in:
Dossier #3: Reformation und Israel
Tobias Krämer | Christen an der Seite Israels
Erhältlich unter: www.csi-aktuell.de