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Für viele Christen, die an Jesus glauben und die Bibel ernst nehmen, ist das Phänomen Israel ein großes Rätsel. Dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel: Wie kann Gott angeblich ein Volk gebrauchen, das weitgehend nicht an Jesus glaubt? Wie ist es einzuordnen, dass Israel ständig im Zentrum von Krieg, Kriegsgefahr und Terror steht und nach Meinung vieler eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellt?

Die nachfolgenden thesenhaften Gedanken wollen einige Anstöße vermitteln, die helfen mögen, diese berechtigten und nachvollziehbaren Fragen aus der Perspektive der Bibel vielleicht in einem etwas anderen Licht zu betrachten.

Impulse zur Weiterentwicklung der Reich-Gottes-Erwartung aus biblisch-hebräischer Perspektive

Kaum ein biblisches Thema weckt so viel Hoffnung, ist aber gleichzeitig so umstritten wie die Rede vom Reich Gottes. Dadurch, dass Jesus diese Perspektive ins Zentrum des Vaterunsers gestellt hat, ist dieses Gebet, ist diese Dimension unseres Glaubens und Handelns für uns Christen von zentraler Relevanz.

Allerdings gibt es zu dieser Thematik kirchengeschichtlich und aktuell verschiedene Zugänge mit unterschiedlicher biblischer Anbindung und Substanz. Auch innerbiblisch ist diese Thematik sehr breit und komplex angelegt. Weil sie so zentral ist.

„Gedenken, Erinnerung spielt im Judentum eine zentrale Rolle. Erinnerung an die Verheißung von HaSchem, an das Geschenk des Landes und an den Bund. 169-mal begegnet uns der Wortstamm zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Eine jüdische Weisheit lautet: ‚Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet: Erinnerung.‘ Und Elie Wiesel hat einmal festgestellt: ‚To be a Jew is to remember.‘“

Dieses Zitat von Charlotte Knobloch (Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern; Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland) macht deutlich, wie sehr die Erinnerung und das Gedenken ein identitätsstiftender Teil des Judentums ist. Die Thora ermahnt die Kinder Israel unzählige Male, sich an Gottes große Taten und an seine Gebote zu erinnern. Die biblischen Feste und Feiertage sind primär dafür von Gott initiiert worden, dass die wichtigsten Heilstaten Gottes über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis des jüdischen Volkes unerschütterlich verankert werden.

Was es mit der Entscheidung „zwischen Babel und Zion“ auf sich hat

„Der Herr regiert als König – die Völker erzittern; er thront über den Cherubim – die Erde wankt! Der Herr ist groß in Zion und hoch erhaben über alle Völker. Loben sollen sie deinen Namen, den großen und furchtgebietenden – heilig ist er! –, und die Stärke des Königs, der das Recht liebt.“ (Psalm 99,1-4)

„Hört das Wort des Herrn, ihr Heidenvölker, und verkündigt es auf den fernen Inseln und sprecht: Der Israel zerstreut hat, der wird es auch sammeln und wird es hüten wie ein Hirte seine Herde.“ (Jeremia 31,10)

Die Verhältnisbestimmung zwischen Israel und der Völkerwelt ist ein biblisches Thema, leider wurde es im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte oft unterbelichtet oder verzerrt dargestellt. Mit der Wiederherstellung Israels ist ein neues Kapitel der Heilsgeschichtliche aufgeschlagen worden.

Die Stadt Jerusalem mit dem Tempelberg im Zentrum ist einer der umstrittensten Flecken der Erde. Wie schon so oft in der Geschichte, so sind auch heute noch – und vielleicht mehr denn je – die historischen Zuordnungen, die Ansprüche, die Zukunftsentwürfe, die Erwartungen und identitätsstiftenden Perspektiven auf Jerusalem sehr kontrovers. Allein in den letzten Monaten sind diese Spannungen auf vielfältige Weise zutage getreten: Die UNESCO-Beschlüsse im Oktober 2016, die fast zeitgleichen Besuche der beiden höchsten Vertreter der verfassten Kirchen Deutschlands auf dem Tempelberg, die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrates vom 23.12.2016 und damit verbunden die Friedenskonferenz vom 15. Januar 2017 in Paris zeigen, wie hochaktuell und relevant die kontroverse Diskussion um die Stadt ist. Dieser Beitrag ist ein Versuch, die wesentlichen Eckpunkte der biblisch-christlichen Sicht auf Jerusalem zu skizzieren. Zehn davon seien genannt:

Am Anfang der Heilsgeschichte stand der Sündenfall der Menschen und die Verheißung des Messias: „Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir (der Schlange) und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Verse stechen“ (1. Mose 3,15). Der Messias wird Satan den Kopf zertreten! Aber welcher Messias? Woher kommt er? Wer ist er? Was ist sein Ziel?

Am Ende der Königsherrschaft Davids gewinnen die messianischen Andeutungen zu Beginn der biblischen Heilsgeschichte zunehmend an Klarheit – der Messias kommt aus der Nachkommenschaft Davids: „Wenn deine Tage erfüllt sind und du bei deinen Vätern liegst, so will ich deinen Samen nach dir erwecken, der aus deinem Leib kommen wird, und … dein Haus und dein Königreich soll ewig Bestand haben vor deinem Angesicht; dein Thron soll auf ewig feststehen.“ Genau dies bestätigt auch der Prophet Jesaja: „Und es wird ein Zweig hervorgehen aus dem Stumpf Isais (des Vaters Davids) und ein Schössling hervorbrechen aus seinen Wurzeln … Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden die Heidenvölker fragen nach dem Wurzelspross Isais, der als Banner für die Völker dasteht …“ (Jes 11,1.10)

Am 31. Oktober 1517 war der historische Thesenanschlag von Dr. Martin Luther in Wittenberg. Im selben Jahr begann die ottomanische Herrschaft im Nahen Osten. Sie sollte 400 Jahre währen: Am 31. Oktober 1917 siegten in Beer Sheva die angelsächsischen über die ottomanischen Truppen und öffneten den Weg nach Jerusalem. Am selben Tag unterzeichnete das britische Kriegskabinett die historische Balfour-Erklärung: Der völkerrechtliche Grundstein für die Wiedererstehung eines jüdischen Nationalstaates auf historischem Boden war gelegt. Im Jahr 2017 wird das 500-Jahres-Gedenken und 100-Jahres-Gedenken ergänzt durch das 50-Jahres-Gedenken der Wiedervereinigung Jerusalems. Handelt es sich hierbei um eine Ansammlung unzusammenhängender Zufälle? Oder lässt sich dahinter der Gott der Bibel erkennen, der Gott Israels, der Urheber und das Ziel der Menschheitsgeschichte?

Im Frühjahr 2020 unterhielt ich mich mit einem Freund über die Bedeutung der San-Remo-Konferenz von 1920, die fast genau 100 Jahre zuvor stattgefunden hatte. Ich war sehr bewegt von dem 100-Jahres-Jubiläum und mein Freund – ein gestandener Christ und Israelfreund, aber ohne allzu viel Geschichtswissen – stellte mir diese Frage. In einem längeren Gespräch brachte ich ihm in etwa die folgenden Gedanken nahe.

1) Meine Beziehung zur Europäischen Koalition für Israel

Viele Jahre war ich im Vorstand einer christlichen Lobbyorganisation in Brüssel mit Namen „European Coalition for Israel“ (Europäische Koalition für Israel – ECI). Diese Organisation unter der Leitung eines guten Freundes, Thomas Sandell, war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedeutung dieses historischen Ereignisses zum 90. Jahrestag der San-Remo-Konferenz 2010 verstärkt in das öffentliche Bewusstsein gekommen ist – interessanterweise nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Israels. Damals wurde auch mein Interesse an diesem Geschehen geweckt.