„Gedenken, Erinnerung spielt im Judentum eine zentrale Rolle. Erinnerung an die Verheißung von HaSchem, an das Geschenk des Landes und an den Bund. 169-mal begegnet uns der Wortstamm zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Eine jüdische Weisheit lautet: ‚Das Vergessenwollen verlängert das Exil – das Geheimnis der Erlösung lautet: Erinnerung.‘ Und Elie Wiesel hat einmal festgestellt: ‚To be a Jew is to remember.‘“
Dieses Zitat von Charlotte Knobloch (Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern; Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland) macht deutlich, wie sehr die Erinnerung und das Gedenken ein identitätsstiftender Teil des Judentums ist. Die Thora ermahnt die Kinder Israel unzählige Male, sich an Gottes große Taten und an seine Gebote zu erinnern. Die biblischen Feste und Feiertage sind primär dafür von Gott initiiert worden, dass die wichtigsten Heilstaten Gottes über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis des jüdischen Volkes unerschütterlich verankert werden.
Wir Christen haben dieses Vorbild ein Stück weit übernommen. Gleichwohl können wir diesbezüglich noch viel vom jüdischen Volk lernen. Vor allem auf der familiären Ebene, aber auch in unserem Gemeindeleben. Die Kultur des Gedenkens und des Erinnerns ist eine Kunst, die erlernt und eingeübt werden will.
Im Januar 2020 jährte sich das Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Auf den beiden Gedenkveranstaltungen der „Initiative 27. Januar“ in Berlin und München konnte ich folgende drei Gedanken zum Gedenken einbringen:
1) Die Überlebenden und Zeitzeugen werden immer wichtiger
Im Gedenken an den Holocaust spielen die Opfer und Zeitzeugen von damals eine immer wichtigere Rolle. Ihre Erzählungen tragen maßgeblich dazu bei, dass sich ein kraftvolles Miteinander ergibt zwischen der Ritualisierung des Gedenkens einerseits und der Authentizität des Gedenkens andererseits. Eine gewisse Ritualisierung hat seine Berechtigung und ist unvermeidlich, weil menschlich. Solange jedoch Zeitzeugen unter uns bereit sind, aus ihren Erinnerungen zu berichten, sollten wir ihnen sensibel und wertschätzend Raum machen, damit das Ritual durch Realität ergänzt, vertieft und verlebendigt wird. Wir haben diese kostbaren Menschen nur noch wenige Jahre unter uns. Nutzen wir diese Jahre mit größtmöglichem Engagement! Das dient uns in unserem Eintreten in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Antizionismus und Holocaust-Relativierung. Und es dient ihnen und gibt in der Regel ihrem Leben und ihrem Leid ein Stück weit einen positiven Sinn.
Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass wir dankenswerter Weise in der Regel die Erfahrung machen dürfen, dass je länger und besser wir uns gegenseitig kennen lernen das Vertrauen zueinander wächst. Was heute im Miteinander möglich ist, war so vor zehn oder gar zwanzig Jahren noch nicht möglich. Mögen die letzten Jahre der öffentlichen Zusammenarbeit die besten Jahre werden!
2) Die junge Generation wird immer wichtiger!
Eine besondere Rolle für die Zukunft des Gedenkens spielt naheliegender Weise die junge Generation. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Arbeit von „Zeugen der Zeitzeugen“. Junge Deutsche haben in den letzten Jahren Dutzende von Interviews mit Holocaust-Überlebenden getätigt. Teilweise sind dadurch langjährige Beziehungen entstanden. Aus einigen dieser Beziehungen heraus wiederum haben sich gemeinsame Einsätze in Schulen und Universitäten entwickelt. Zwischen den älteren Überlebenden und den jungen Erwachsenen entsteht oft eine besondere „Chemie“. In der Familie, wie auch im sonstigen Leben, tun sich ja die Großeltern und die Enkelgeneration miteinander oft leichter als die direkt aufeinanderfolgenden Generationen. Etwas Vergleichbares erleben wir auch hier. Diese Chance gilt es zu nutzen!
Diese Erfahrungen wiederum können helfen, im beruflichen, akademischen oder auch im einflussreichen ehrenamtlichen Umfeld der jüngeren Generation das Gedenken lebendig zu halten. Das Gleiche gilt auch in Ergänzung dazu mit Blick auf Israel, wo sich Möglichkeiten eröffnen bzw. bewusst gesucht werden, Einfluss zu nehmen, um ein zugewandtes, lebensnahes Bild von Israel zu vermitteln. Gerade für junge Leute mit ihren Kommunikationsmöglichkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Authentizität eröffnen sich hier weitreichende Möglichkeiten, dem wachsenden Antisemitismus und Antizionismus in unserer Gesellschaft aktiv entgegenzutreten.
3) Die wachsende Bedeutung der Einheit von Worten und Taten
Die vielleicht entscheidende Herausforderung mit Blick auf das Gedenken der Zukunft liegt in der Frage, inwieweit Worte und Taten eine Einheit bilden oder auseinanderklaffen. Aus meiner Sicht ist dies für uns Deutsche eine kollektive, nationale Herausforderung. Sie betrifft alle Generationen, alle gesellschaftlichen Gruppierungen, alle Denominationen. An der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich die tatsächliche oder mangelnde Glaubwürdigkeit unseres kollektiven Nachkriegsbekenntnisses: „Nie wieder!“
Es besteht nach wie vor ein großer gesellschaftlicher Konsens darin, dass der Holocaust ein historischer Fehler, eine historische Schuld, ein „Zivilisationsbruch“ war. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass man deshalb aktuelle Formen des Antisemitismus und des Antiisraelismus durchschauen und ihnen entgegentreten kann. In der Politik, in den Kirchen, an den Arbeitsplätzen und Stammtischen, in den Familien passiert das leider viel zu wenig. Man bedauert den Holocaust, aber gleichzeitig empfindet oder beurteilt man Israel als die neuen Nazis. Man tut sich leicht, die historischen Formen des Antisemitismus zu verurteilen, sieht aber nicht, wie groß die Gefahr ist, dem Antisemitismus im aktuellen zeitgeistigen Gewand auf den Leim zu gehen.
Nur so ist es zu erklären, dass die hohe Politik im Januar 2015 um den 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz herum in ernsten Worten die Schuld Nazi-Deutschlands öffentlich bedauerte, die gleichen Politiker im Mai 2015 mit ihren israelischen Partnern 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel würdigten und feierten und wiederum die gleichen Politiker im Juni 2015 den halbseidenen Atomdeal mit dem Iran einfädeln und unterzeichnen konnten – mit der Macht, welche die Auslöschung Israels, einen neuen Holocaust, als Teil ihrer Staatsräson betrachtet. Wie passt das mit unserer deutschen Staatsräson – dem Schutz Israels (Merkel 2008 in der Knesset) – zusammen?
Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Zukunft des Gedenkens eine Frage von außerordentlich hoher gesellschaftlicher und auch geistlicher Bedeutung ist. Die Gesellschaft braucht Vorbilder, braucht Inspiration, braucht Orientierung. Können wir Christen – wo es passt, gemeinsam mit unseren jüdischen Freunden – einen Weg gehen, der über unsere Reihen hinaus Strahlkraft und Einfluss gewinnt? Können wir mit anderen geeigneten gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, die einen ähnlichen Weg suchen und gehen?
Das könnte unser christlicher Beitrag zur Zukunft des Gedenkens sein.